Streit um Pflichtteile und Testament – Ein komplexer Erbfall
Sachverhalt: Der Erblasser, Herr Fritz Müller, wohnhaft in Basel, verstarb im Alter von 72 Jahren. Er hinterließ seine Ehefrau Anna Müller, sowie zwei Kinder aus erster Ehe, Daniel und Sabine Müller. Herr Müller hatte vor seinem Tod ein handschriftliches Testament verfasst, in dem er festlegte, dass seine Frau Anna die gesamte Liegenschaft in Basel (Marktwert CHF 1.2 Millionen) erhalten solle. Die beiden Kinder sollten das restliche Vermögen, welches CHF 600.000 in Wertschriften und Bankguthaben betrug, zu gleichen Teilen erben.
Die Kinder erheben nun jedoch Anspruch auf ihre gesetzlichen Pflichtteile und fordern eine Anpassung der testamentarischen Verfügung, da das Erbe zugunsten von Anna erheblich von der gesetzlichen Erbfolge abweicht.
Rechtsfragen:
Sind die Pflichtteile der Kinder nach Art. 471 ZGB verletzt?
Wie wird das Testament im Hinblick auf die Pflichtteile korrigiert?
Welche Folgen hat die testamentarische Zuwendung der Liegenschaft an die Ehefrau?
Wie ist der Fall vor dem Hintergrund der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichts und Kommentarliteratur zu beurteilen?
1. Gesetzliche Grundlagen: Pflichtteile und Erbansprüche
Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) regelt in Art. 471 ZGB die Pflichtteile der Erben. Die Pflichtteile dienen dem Schutz bestimmter Erben und verhindern, dass diese durch eine letztwillige Verfügung übergangen oder benachteiligt werden. Gemäß Art. 471 ZGB beträgt der Pflichtteil für die Nachkommen 50 % des gesetzlichen Erbanspruchs. Für den überlebenden Ehegatten beträgt der Pflichtteil ebenfalls 50 %.
Nach der gesetzlichen Erbfolge (Art. 462 ZGB) erben der überlebende Ehegatte und die Nachkommen des Erblassers gemeinsam. Bei zwei Kindern würde dies bedeuten, dass der Nachlass zu 50 % an die Ehefrau und zu je 25 % an die beiden Kinder verteilt wird.
Im vorliegenden Fall hinterlässt der Erblasser CHF 1.8 Millionen. Die gesetzliche Erbfolge sähe daher folgende Aufteilung vor:
Ehefrau: 50 % (CHF 900.000)
Daniel und Sabine: je 25 % (CHF 450.000)
2. Pflichtteilskorrektur des Testaments
Das Testament, das die Liegenschaft vollständig der Ehefrau zuweist, benachteiligt die Kinder erheblich, da sie durch das Testament nur auf das restliche Vermögen beschränkt werden. Da der Wert der Liegenschaft CHF 1.2 Millionen beträgt, wäre das verfügbare Vermögen von CHF 600.000 für die Kinder nicht ausreichend, um ihre Pflichtteilsansprüche von CHF 450.000 pro Kind zu decken.
Gemäß Art. 522 Abs. 1 ZGB müssen testamentarische Zuwendungen, die gegen den Pflichtteil verstossen, entsprechend gekürzt werden. Die Liegenschaft muss also anteilig zwischen der Ehefrau und den Kindern aufgeteilt werden, damit die Pflichtteile gewahrt bleiben.
Pflichtteile der Kinder: Jeder der beiden Kinder hat Anspruch auf CHF 450.000.
Frei verfügbare Quote: Die frei verfügbare Quote beläuft sich auf CHF 900.000, die vollständig an die Ehefrau gehen könnte.
3. Berechnung der Aufteilung
Zunächst wird geprüft, ob die Pflichtteile aus dem liquiden Vermögen gedeckt werden können. Da das restliche Vermögen CHF 600.000 beträgt, und die Pflichtteile der Kinder zusammen CHF 900.000 betragen, müssen die Kinder anteilig auch an der Liegenschaft beteiligt werden. Somit wäre folgende Aufteilung denkbar:
Die Liegenschaft im Wert von CHF 1.2 Millionen wird proportional zwischen den Erben aufgeteilt.
Ehefrau: 75 % der Liegenschaft (Wert CHF 900.000)
Kinder: 25 % der Liegenschaft (Wert CHF 300.000)
Zusätzlich erhalten die Kinder je CHF 150.000 aus dem übrigen Vermögen, um ihre Pflichtteile vollständig zu sichern.
Diese Aufteilung stellt sicher, dass die Pflichtteile der Kinder gewahrt werden und die Ehefrau dennoch einen wesentlichen Teil der Liegenschaft behält.
4. Rechtsprechung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht hat in verschiedenen Urteilen die Pflichtteilskürzung und die Anwendung von Art. 522 ZGB bestätigt. In BGE 136 III 305 wurde festgehalten, dass die testamentarischen Anordnungen, die gegen Pflichtteile verstoßen, zwingend korrigiert werden müssen. Es ist nicht zulässig, Pflichtteilserben zugunsten anderer Erben oder Vermächtnisnehmer zu benachteiligen. Zudem hat das Bundesgericht in BGE 141 III 97 betont, dass die Erbansprüche der Pflichtteilserben in den Vordergrund gestellt werden müssen, wenn keine ausreichende frei verfügbare Quote vorhanden ist.
5. Kommentarliteratur
Gemäß dem Basler Kommentar (BGE 141 III 97, Art. 522 N 11 ff.) ist eine sorgfältige Abwägung zwischen den Interessen der Ehepartner und der Kinder vorzunehmen, insbesondere dann, wenn Immobilien im Erbe eine zentrale Rolle spielen. Ein uneingeschränktes Vermächtnis zugunsten des Ehegatten ist oft nicht durchsetzbar, wenn dadurch die Pflichtteile der Kinder verletzt werden.
6. Fazit und anwaltliche Empfehlung
In diesem Fall ist klar, dass die testamentarische Zuwendung der Liegenschaft an die Ehefrau in der vorliegenden Form nicht durchsetzbar ist. Die Pflichtteile der Kinder sind gesetzlich geschützt und können nicht übergangen werden. Es empfiehlt sich daher, eine einvernehmliche Lösung unter den Erben zu finden, bei der die Liegenschaft anteilig aufgeteilt wird und die Kinder zusätzlich aus dem restlichen Vermögen entschädigt werden.
Sollte keine Einigung erzielt werden, besteht die Möglichkeit, dass die Kinder ihre Pflichtteile gerichtlich geltend machen. Eine solche Klage würde auf die Herabsetzung des Testaments (Art. 522 ZGB) abzielen, um die testamentarische Anordnung zu korrigieren und die Pflichtteile zu sichern.
Dieses Fallbeispiel bietet eine tiefergehende Analyse eines typischen Erbfalls unter Einbezug der gesetzlichen Bestimmungen, Kommentaren und der Bundesgerichtsrechtsprechung.
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